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Alptraum eines Pilzkontrolleurs

Geschrieben von: harald andres schmid
Datum: 1. Oktober 2003, 21:56 Uhr


Heut ist ein harmlos regnerischer Tag im Herbst.
Da werden nicht viele auf die Pilzkontrolle kommen.
In der Stadt treffe ich erst noch Marie-Louise, die strahlend ihren neuen Motorroller ausführt.
Sie anerbietet sich, mit auf die Kontrolle zu kommen, obwohl sie nicht eingeteilt ist.
Zu zweit ist es alleweil einfacher.
"Wetten, ich bin vor dir dort?"
Kunststück, mit dem Roller, aber es ist erst halb fünf.
Als ich eintreffe ist sie schon da.
Es ist erst viertel vor fünf. Die Tür steht offen.
Ich stutze. Vor der Tür ein weisser Lieferwagen.
Wer geht denn schon mit einem Lieferwagen in die Pilze?
Drin traue ich meinen Augen nicht.
Als erstes ein strahlender junger Italiener mit einer riesigen, grauen Plastikkiste, in der sich türmen:
Ja, was wohl - Hallimasch.
Aber nicht einfach Hallimasch. Nein, die ältesten, vergammeltsten, riesigsten, dreckigsten Bündel Hallimasch, die ich je gesehen und gerochen habe.
Er strahlt mich an. Der ganze Raum voll verfrüht eingetroffener Pilzsammler, jeder mit Bergen von Hallimasch.
Hallimasch in Körben, in Tüten, in Sperrgutsäcken.
Doch alle bewundern die Beute des jungen Italieners.
Zum ersten Mal in Pilze! sagt er und strahlt.
Ich lächle gezwungen zurück.
Marie-Louise blickt verzweifelt von der Kiste auf.
"Da bist du ja endlich!"
Sie versucht die riesigen, vergammelten Hallimaschbündel, von denen Erde und die Blätter rieseln, aus der Kiste zu zerren und irgendwie auszulegen. Doch es fehlt der Platz.
Die unteren Bündel sind ziemlich zerquetzscht, der Pilzmatsch rinnt ihr nur so durch die Hände.
Das Publikum steht drum herum und amüsiert sich auf italienisch.
Ich versuche zu helfen, doch es wird alles nur noch schlimmer. Ich versuche den Boden der Kiste auszumachen. Zwischen zwei verquetschten Maronenröhrlingen hindurch kann ich auf dem Grund einnen Schlamm aus weissem Sporenstaub, zerfetzten Pilzhüten, Regenwasser und zerkrümelten Blättern ausmachen.
Ich erhebe pädagogisch meine Stimme und verkünde, dass man nur junge, frische Pilze sammeln sollte, und schon gar nicht in diesen Mengen.
Der Italiener hat das Stichwort gekriegt.
"Keine Probleme, die andere sind noch in Auto!"
Ich schnappe nach Luft. "Im Au..?"
"Ja, ich holen, sie können helfen" Sagt er zu zwei umstehenden Italienern, die die Szene sichtlich geniessen.
Sie schleppen drei weitere Kisten Hallimasch in den Raum und knallen sie auf die Tische.
Wolken von weissem Sporenstaub steigen auf.
Einige Spinnen flüchten aus den Kisten panisch über die Tische und den Boden, der sich mit einem Gemisch aus Regenwasser von den Schuhen und dem Dreck aus den Kisten bedeckt hat.
Mittlerweile hat sich der Raum bis in den letzten Winkel mit unzähligen anderen Pilzsammlern angefüllt, die teils amüsiert, teils ungeduldig die Szene betrachten.
Ich beschliesse, Ordnung ins Chaos zu bringen, und erst die anderen abzufertigen.
Das junge Pilzgenie soll warten.
Gesagt, getan, ich will mich zu einem anderen Tisch bewegen, rutsche auf dem Glitsch aus und falle fast einer zierlichen, weisshaarigen alten Dame in die Arme, die mich gleich am Ärmel packt und mir klarzumachen sucht, dass sie doch nur diese zwei klitzekleinen Pilzchen in ihrer Hand gerne bestimmt hätte, und ob ich doch nicht erst...
Ich gebiete Ruhe und sage, es gehe der Reihe nach.
Marie-Louise hat sich ein Herz gefasst und hört auf, Kehrichtsack um Kehrichtsack mit vergammelten Hallimasch zu füllen und gebietet dem jungen Italiener, seine Kisten mitzunehmen und selbst zu entsorgen.
Sie schreibt 30 Kilogramm Hallimasch, ungeniessbar, auf den Kontrollzettel und versucht Ordnung zu schaffen.
Alle helfen mit, die Hallimasch-Leichen wieder in die Kisten zu packen, während ihnen die Springschwänze um die Ohren fliegen. Der kleisterige Belag auf den Tischen lässt sich jedoch kaum wegwischen.
Die alte Dame zupft mich wieder am Arm, während ich mich über einen weiteren Berg Hallimasch (frische) bücke, und fragt, ob ich nicht erst ihre kleinen, beiden Pilzchen...
Auf meinen Fingerspitzen hat mittlerweile sich ein klebriger, zäher, brauner Belag gebildet, der sich kaum wegwischen lässt, und bewirkt, dass meine Fingerspitzen langsam taub und gefühllos werden.
Ich versuche ruhig durchzuatmen und wende mich dem nächsten Sammler zu, während der vorige immer noch in gebrochenem Deutsch auf mich einredet, ob er die Hallimasch auch abbrühen müsse, wenn er sie einfriere.
Nach einer endlos scheinenden Zeit ist es geschafft. Ich blicke auf. Der Rücken schmerzt
Marie-Louise steht da und schaut mich mit grossen Augen an. Wir stehen inmitten eines Lokals, dass aussieht, als hätte jemand nassen Waldboden durchs Fenster hereingeschmissen.
Doch halt... Da steht ja noch die alte, zierliche Dame.
Ich entschuldige mich und nehme lächelnd ihre zwei Pilzchen entgegen.
Es sind - Hallimasch...
"Was?" Fragt sie.
"Hallimasch," sage ich.
"Das sind nicht die gleichen, wie bei den andern!"
"Doch!"
Sie schaut mich ungläubig und misstrauisch an und verschwindet.
Wir schauen uns an.
Wir lassen uns nieder.
"Wie viele waren es denn heute," frage ich, um die Situation etwas aufzulockern.
Marie-Louise nimmt den Block und versucht die Kopien durchzuzählen.
Nichts zu lesen.
Ich habe bei jeder Seite das Kohlepapier verkehrt herum eingelegt.
Die Kopie befindet sich wohl auf der Rückseite der Originale der Sammler...
Bloss der Alptraum eines Kontrolleurs?
Nein! So geschehen am 1. Oktober 1993 auf der Pilzkontrollstelle in Baden.

Beiträge in diesem Thread

Alptraum eines Pilzkontrolleurs -- harald andres schmid -- 1. Oktober 2003, 21:56 Uhr
Nachtrag: -- harald andres schmid -- 1. Oktober 2003, 22:23 Uhr
Vielleicht liegt es am Halli-Sporenstaub! *oT* -- elfi -- 1. Oktober 2003, 22:32 Uhr
Re: Vielleicht liegt es am Halli-Sporenstaub! -- harald andres schmid -- 1. Oktober 2003, 22:35 Uhr
Re: Alptraum eines Pilzkontrolleurs -- Rene -- 2. Oktober 2003, 01:17 Uhr
Re: Alptraum eines Pilzkontrolleurs -- Piwo -- 2. Oktober 2003, 11:32 Uhr
Re: Alptraum eines Pilzkontrolleurs -- 42 -- 2. Oktober 2003, 09:22 Uhr
Re: Alptraum eines Pilzkontrolleurs -- Joachim -- 2. Oktober 2003, 10:27 Uhr
Es läuft nicht immer so! *ggg* -- harald andres schmid -- 2. Oktober 2003, 10:59 Uhr
Re: Alptraum eines Pilzkontrolleurs -- Thomas Pruß -- 2. Oktober 2003, 11:45 Uhr

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