Hallo,
Wir haben bereits wieder den ersten Juni.
Erich Kästner hat für jeden Monat des Jahres ein Gedicht geschrieben.
Der Zyklus heisst: Die dreizehn Monate.
Ich lebe mit diesem Gedichtzyklus, ich lese mir zu jedem ersten des Monats das jeweilige Gedicht vor.
Ich bin jedes Mal von neuem entzückt.
Ich wage es, euch eines dieser Gedichte vorzustellen:
Der Juni.
Dies hier zu bringen schrammt sicher arg an der Grenze des "off-topic" noch Zulässigen vorbei.
Anderseits: solche Gedichte haben hier in diesem Forum einen würdigen Platz (oder ich kenne euch schlecht), und sind für mich eigenlich sehr "on topic":
Als Pilzesammler leben wir mit den Jahreszeiten, setzen uns ihnen aus, sind mit dem immer wiederkehrenden Rhythmus des Werdens und Vergehens quasi per Du.
Diese Gedichte handeln von nichts anderem.
Erich Kästner ist für mich der vernachlässigste Dichter des 20. Jahrhunderts.
Die Art und Weise, wie er die Worte wählt und an ihren richtigen Platz setzt, dieses Vermögen, heimlich Gänsehaut beim Leser zu erzeugen, ohne dass dieser weiss, wie ihm geschieht, diese oberflächlige Trockenheit mancher Formulierungen, die gleichzeitig an tiefere Bereiche der Seele greift, diese traumwandlerische Klarheit, nie ins Kitschige abzudriften - all dies kommt aus schier unbegreiflicher Meisterschaft im Umgang mit den Stilmitteln und hat für alle, die intensiver mit Sprache zu tun haben, etwas unbegreifliches und fast Verstörendes.
Ich habe das folgende Gedicht vor ein paar Tagen einer Kollegin - eine höchst erfolgreiche Krimiautorin, die meine Texte supervisiert - vorgelesen und die hockte völlig erschlagen da und murmelte immer nur:
"da können wir alle einpacken... mein Zeug wird gelesen und gekauft... und das hier liest heut keiner mehr... ich glaub's einfach nicht..."
Falls dieses "off topic" nicht zu viele militante Gegner findet, würde ich euch gerne zu Beginn jeden Monats das entsprechende Gedicht schenken:
Der Juni
Die Zeit geht mit der Zeit: Sie fliegt.
Kaum schrieb man sechs Gedichte,
ist schon ein halbes Jahr herum
und fühlt sich als Geschichte.
Die Kirschen werden reif und rot,
die süssen wie die sauern.
Auf zartes Laub fällt Staub, fällt Staub,
so sehr wir es bedauern.
Aus Gras wird Heu. Aus Obst Kompott.
Aus Herrlichkeit wird Nahrung.
Aus manchem, was das Herz erfuhr,
wird, bestenfalls, Erfahrung.
Es wird und war. Es war und wird.
Aus Kälbern werden Rinder
und, weils zur Jahreszeit gehört,
aus Küssen kleine Kinder.
Die Vögel füttern ihre Brut
und singen nur noch selten.
So ist's bestellt in unsrer Welt,
der besten aller Welten.
Spät tritt der Abend in den Park,
mit Sternen auf der Weste.
Glühwürmchen ziehn mit Lampions
zu einem Gartenfeste.
Dort wird getrunken und gelacht.
In vorgerückter Stunde
tanzt dannd er Abend mit der Nacht
die kurze Ehrenrunde.
Am letzten Tische streiten sich
ein Heide und ein Frommer,
ob's Wunder oder keine gibt.
- Und nächstens wird es Sommer...
Erich Kästner