Hallo, zusammen
Ich war in letzter Zeit so mit Klavierüben beschäftigt, dass alles andere zu kurz kam.
Ich war nicht im Wald, nicht im Forum, nicht im Chat - seit bald einem Monat.
Schade.
Ich habe aber noch einen Termin einzulösen:
Ich habe versprochen, jeden 1. des Monats das entsprechende Gedicht von Erich Kästner hier vorzustellen.
Da ich bei meinem Juni-Posting:
http://www.pilzepilze.de/cgi-bin/webbbs/pconfig.pl?noframes;read=63279
nur positive Reaktionen bekommen habe, und auch niemand dagegen ist, werde ich also jeden 1. des Monats - nun, es ist eine kleine Verspätung eingetreten, für die ich mich entschuldigen möchte....
Hier also das kleine Meisterwerk zum Thema Juli:
Der Juli
Still ruht die Stadt. Es wogt die Flur.
Die Menschheit geht auf Reisen
oder wandert sehr oder wandelt nur.
Und die Bauern vermieten die Natur
zu sehenswerten Preisen.
Sie vermieten den Himmel, den Sand am Meer,
die Platzmusik der Ortsfeuerwehr
und den Blick auf die Kuh auf der Wiese.
Limousinen rasen hin und her
und finden und finden den Weg nicht mehr
zum verlorenen Paradiese.
Im Feld wächst Brot. Und es wachsen dort
auch die künftigen Brötchen und Bretzeln.
Eidechsen zucken von Ort zu Ort.
Und die Wolken führen Regen an Bord
und den spitzen Blitz und das Donnerwort.
Der Mensch treibt Berg- und Wassersport
und hält nicht viel von Rätseln.
Er hält die Welt für ein Bilderbuch
mit Ansichtskartenserien.
Die Landschaft belächelt den lauten Besuch.
Sie weiss Bescheid.
Sie weiss, die Zeit
überdauert sogar diese Ferien.
Sie weiss auch: einen Steinwurf schon
von hier beginnt das Märchen.
Verborgen im Korn, auf zerdrücktem Mohn,
ruht ein zerzaustes Pärchen.
Hier steigt kein Preis, hier sinkt kein Lohn.
Hier steigen und sinken die Lerchen.
Das Mädchen schläft entrückten Gesichts.
Die Bienen summen zufrieden.
Der Jüngling heisst, immer noch, Taugenichts.
Er tritt durch das Gitter des Schattens und Lichts
in den Wald und zieht, durch den Schluss des Gedichts,
wie in alten Zeiten gen Süden.
Erich Kästner
Für die an Lyrik interessierten: (die anderen brauchen hier nicht weiterzulesen)
Das Gedicht ist raffiniert gemacht. Ich habe es lange Zeit versucht zu analysieren, bin aber über die Jahre nicht an ein Ende gekommen.
Ich möchte das Gedicht nicht zerreden, aber vielleicht interessiert sich jemand für meine jahrelangen Gedankengänge dazu:
Kästner führt uns erst tüchtig aufs Glatteis mit seinem scheinbar leicht hingeworfenen, beiläufig-trockenen Moralisieren und dem Humor der ersten Strophen.
Nur hin und wieder zupft er uns emotional am Ärmel, etwa bei der Schilderung der Eidechsen und ähnlicher Stellen.
Wenn wir ihm dann gemütlich auf den Leim gekrochen sind und ebenso beiläufig-zufrieden weiterlesen, packt er uns in den letzten zwei Abschnitten unversehens statt am Ärmel - am Kragen und reisst uns kopfüber mit in seinen Lyrik-Suppen-Topf.
Natürlich nicht in eine Suppe, sondern in ein so unerhörtes Licht, dass es das Licht über dem Getreidefeld bei weitem überstrahlt.
Nach dem geschilderten Beginn kommt dies fast wie ein Schock.
Warum macht Kästner das so?
Goethe sagte einmal, (der genaue Wortlaut ist mir nicht gegenwärtig), man solle vom Geheimnis nicht geheimnisvoll reden.
Kästner hat sich daran gehalten, stets. Er ist nie kitschig oder auf unangenehme Art emotional geworden.
Normalerweise lockert er die intensivsten Stellen seiner Gedichte auf, in dem er schockartig mit trockenem Humor oder Zynismus dazwischenfährt.
Er legt einem quasi mahnend die Hand auf die Schulter, mit der Aufforderung, ja nicht Gefühlsduselig zu werden.
Hier geht er ausnahmsweise den umkehrten Weg, indem er uns mit einem distanzierten Vexierspiel der ersten Strophen derart durcheinander bringt, dass die letzten Stophen eine ungeheure Wirkung entfalten, da man auf sie nicht vorbereitet ist.
Das scheinbar leicht Hingeworfene ist sorgfältig und hochintelligent durchkonstruiert.
Ich kann mich noch an meinen ersten Kontakt mit diesem Gedicht erinnern.
Ich las es und anschliessend nur noch die ersten zwei Zeilen des völlig gegensätzlichen, schwül-heissen August-Gedichts (folgt nächsten Monat):
Nun hebt das Jahr die Sense hoch
und mäht die Sommertage wie ein Bauer....
Ich war derart erschlagen, dass ich für Wochen und Monate nichts eigenes mehr zu schreiben wagte.
Mittlerweile glaube ich, der Technik Kästners ein wenige auf die Schliche gekommen zu sein, aber das mindert die unmittelbare Wirkung seiner Lyrik keineswegs.
Ich freue mich, euch die restlichen Gedichte vorstellen zu dürfen.
Übrigens:
Wann soll ich das Gedicht "Der Dreizehnte Monat" platzieren?
Nach dem Dezember?
Kästner hat den Versuch gewagt, einen dreizehnten Monat zu erfinden, zu erträumen, wie er sagte, unter dem Motto:
Wem zwölf genügen, dem ist nicht zu helfen....
Lieben Gruss, Harald Andres