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Pilze Pilze Forum Archiv 2004

off topic: lyrisches zum Monat Oktober

Geschrieben von: harald andres schmid
Datum: 30. September 2004, 12:42 Uhr


Hallo, zusammen

Hier das Oktober-Gedicht von Erich Kästner aus dem Zyklus „Die dreizehn Monate“.
Für diejenigen, die noch nicht so lange im Forum sind:
Ich habe versprochen, zu Anfang jeden Monats, quasi als Einstimmung auf das Kommende, das entsprechende Gedicht hier einzubinden.
So sind seit Juni jetzt fünf von dreizehn Gedichten zusammengekommen.
Die übrigen Gedichte findet ihr mit der Suchfunktion unter dem Stichwort: lyrisches

Der Oktober

Fröstelnd geht die Zeit spazieren.
Was vorüber schien, beginnt.
Chrysanthemen blühn und frieren.
Fröstelnd geht die Zeit spazieren.
Und du folgst ihr wie ein Kind.

Geh nur weiter, bleib nicht stehn.
Kehr nicht um, als sei’s zuviel.
Bis ans Ende musst du gehen.
Hadere nicht mit den Alleen.
Ist der Weg denn schuld am Ziel?

Geh nicht wie mit fremden Füssen,
und als hätt’st du dich verirrt.
Willst du nicht die Rosen grüssen?
Lass den Herbst nicht dafür büssen,
dass es Winter werden wird.

An den Wegen, in den Wiesen
leuchten, wie auf grünen Fliesen,
Bäume bunt und blumenschön.
Sind’s Bucketts für sanfte Riesen?
Geh nur weiter. Bleib nicht stehn.

Blätter tanzen sterbensheiter
ihre letzten Menuetts.
Folge folgsam dem Begleiter.
Bleib nicht stehen. Geh nur weiter.
Denn das Jahr ist dein Gesetz.

Nebel zaubern in der Lichtung
eine Welt des Ungefährs.
Raum wird Traum. Und Rauch wird Dichtung.
Folg der Zeit. Sie weiss die Richtung.
„Stirb und werde!“ nannte er’s.

Erich Kästner

Der Lyriker Kästner läuft zu Hochform auf, wenn er Herbstgedichte schreibt.
Die Zeit des Übergangs, die Schwelle zum Tod, mitten aus dem prallen, sich erfüllenden Leben heraus, hat ihn zu vielen, feinsinnigen, philosophischen Aphorismen inspiriert, die zum Besten gehören, was uns die Deutsche Sprache auf dem Gebiet bietet.
Schon in früheren Herbstgedichten hat er sich als Meister erwiesen.
Das kann man schon aus einzelnen Sätzen herauslesen, wie z.B. die Beschreibung eines Herbststurmes in diesem Satzfragment:
„..und der Herbst rennt torkelnd gegen Bäume..“ aus dem Gedicht: „Nasser November“.

Der Satz: „Stirb und Werde..“ aus dem Oktober-Gedicht ist eine offensichtliche Anspielung auf das Goethe-Gedicht „Selige Sehnsucht“, dessen letzte Strophe lautet:

Und so lang du das nicht hast
Dieses: Stirb und werde!
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde.

Dies ist umso erstaunlicher, als Kästner bekannterweise Goethe nicht mochte.

Ich muss euch wohl nicht erst versuchen, zu beschreiben, wie sehr mich Kästners Gedicht über die Jahre hinweg immer wieder von neuem und immer wieder anders berührt.
Es hat vielleicht mit dem zu tun, was uns Kästner als Begründung, warum er den Zyklus niederschreiben wollte, mitgeteilt hat:

"Man kann die Besinnung verlieren, aber man muss sie wiederfinden.
Man muss wieder spüren:
Die Zeit vergeht, und sie dauert, und beides geschieht im gleichen Atemzug.
Der Flieder verwelkt, um zu blühen. Und er blüht, weil er welken wird.
Der Sinn der Jahreszeiten übertrifft den Sinn der Jahrhunderte.
Doch die zweite Austreibung aus dem Paradies hat stattgefunden.
Adam und Eva haben es diesmal nicht bemerkt.
Was, nun gar, sollten hier ein paar Verse vermögen?
Sie wurden trotzdem notiert. Es hatte, wie so oft, das letzte Wort - das kleine Wort: trotzdem."

Dem habe ich nichts beizufügen. Lieben Gruss, Harald Andres

Beiträge in diesem Thread

off topic: lyrisches zum Monat Oktober -- harald andres schmid -- 30. September 2004, 12:42 Uhr
Re: off topic: lyrisches zum Monat Oktober -- 42 -- 30. September 2004, 13:07 Uhr
Zum Heulen schön! *oT* -- Thomas Pruß -- 1. Oktober 2004, 11:00 Uhr
herzlichenDank Harald Andres ,Gruss *oT* -- hans hurter -- 30. September 2004, 14:12 Uhr

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