Hallo,
Gemäss meinem Versprechen, Euch zu Anfang jeden Monats das ensprechende Gedicht aus dem Zyklus „die dreizehn Monate“ von Erich Kästner zu posten, hier das November-Gedicht.
Der November
Ach, dieser Monat trägt den Trauerflor…
Der Sturm ritt johlend durch das Land der Farben.
Die Wälder weinten. Und die Farben starben.
Nun sind die Tage grau wie nie zuvor.
Und der November trägt den Trauerflor.
Der Friedhof öffnete sein dunkles Tor.
Die letzten Kränze werden feilgeboten.
Die Lebenden besuchen ihre Toten.
In der Kapelle klagt ein Männerchor.
Und der November trägt den Trauerflor.
Was man besass, weiss man, wenn man’s verlor.
Der Winter sitzt schon auf den kahlen Zweigen.
Es regnet, Freunde, und der Rest ist Schweigen.
Wer noch nicht starb, dem steht es noch bevor.
Und der November trägt den Trauerflor…
Erich Kästner
Es tut mir leid, falls das Gedicht schockieren sollte.
Es ist so konzipiert. Nach den bisherigen Gedichten ist es ein Schlag ins ahnungslose Gesicht.
Ich kann mich noch gut an meine Gänsehaut beim ersten Lesen erinnern.
Es zeigt, wie kompromisslos Kästner beim Konzipieren seiner Werke vorging.
Doch auch innerhalb seines Gesamtwerks hat diese schonungslose Art, die Dinge beim Namen zu nennen, der eschatologische, „Tacheles“ redende Stil dieses Gedichts kaum Parallelen.
Hier beginnt man zu verstehen, warum sich Kästner stets über die „Romantiker“ seines Fachs, die zu seiner Zeit immer noch vom „Blümelein auf der Aue“ und von der „Herzallerliebsten mein“ sangen, so bösartig mokierte.
Um es mit seinen eigenen Worten zu sagen:
„Ueber gewisse Dichter:/Sie fahren das Erlebte und Erlernte/nicht in die Scheuern ein und nicht zur Mühle./
Sie zeigen ihre Felder statt der Ernte,/die unreif am Halme wogenden Gefühle…“
Besser kann man es nicht ausdrücken.
Die bisherigen Monats-Gedichte findet ihr mit der Suchfunktion des Forums unter "lyrisches".
Lieben Gruss, Harald Andres