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Pilze Pilze Forum Archiv 2006

Eine Seltenheit und die Verwechslungsgefahr

Geschrieben von: Ingo
Datum: 7. August 2006, 23:46 Uhr


Hallo Pilzfreunde,

endlich hat es nun auch in den Gebieten östlich der Hauptstadt gehörig
geschüttet. Seit mehreren Wochen musste ich in den Wettermeldungen mitverfolgen,
wie hier nahezu jede Gewitterfront erfolgreich abgewehrt werden konnte, während
anderswo im Lande pausenlos der Starkregen herunterging. Allerdings wird es noch
eine gehörige Zeit dauern, bis der Regen die ersten deutlichen Ergebnisse
hervorbringt. Immerhin sind, wie fast immer, unmittelbar nach dem großen Regen
die ersten Knoblauchschwindlinge erschienen.

Noch bevor der Regen am vergangenen Samstag über uns hereinbrach, durfte ich
eine gehörige Überraschung erleben. Wir waren, wie so oft an Sommer-Wochenenden,
auf einen Brandenburger Campingplatz eingeritten, als mich ein Bekannter darauf
aufmerksam machte, dass er „Schirmis“ gesichtet haben wollte.

Wie bitte? Parasole nach acht Wochen Trockenheit und Wüstenklima!

Die Schirmpilze an sich sind auf diesem Campingplatz eigentlich nichts
Besonderes. So stehen auf dem Gelände in mäßig warmen und feuchten Sommern
manchmal hunderte von Parasolen herum. Zur Ferienzeit wird denen dann auch
entsprechend heftig nachgestellt, so dass man eigentlich immer nur noch die
Stiele zu sehen bekommt. In diesem Jahr allerdings nicht. Bei wochenlanger
Trockenheit wachsen normalerweise noch nicht einmal Parasole.
Den einzigen hatte ich Anfang Juni hier als Rätsel gezeigt.

Es wird nun sicher niemanden wundern, dass ich mir sofort die hitzebeständigen
Pilze ansehen wollte. An der Stelle angekommen, leuchteten uns tatsächlich
einige weiße Hüte entgegen. Mir war dann auch sofort klar, wieso da überhaupt
Pilze wachsen konnten. Sie standen inmitten eines großen Abfallhaufens, wo die
Campingfreunde ihre Pflanzenabfälle entsorgten und der dann mit einsetzender
Dunkelheit regelmäßig „gedüngt“ wurde.
Es hat halt viel zu wenige Toiletten auf diesem Campingplatz!

Nun zu den Schirmpilzen. Beim ersten Anblick passten diese tatsächlich noch in
das alte Parasolschema. Beim zweiten Hinsehen jedoch kam mir schon mal was faul
vor. Nachdem ich mit der Knipse näher herangegangen war, konnte ich auch schon
den tollen Geruch wahrnehmen, den die Umgebung dort verströmte - also, auf dem
Boden herumturnen musste diesmal ausfallen.

So standen sie dann da:

kann jemand einen genatterten Stiel erkennen?

obwohl es vom Habitus her Riesenschirmpilze sein könnten.

aber wachsen die normalerweise in Büscheln?

Gilbende Stiele?!

Spätestens nach der Entnahme zweier Fruchtkörper war dann klar – keine Parasole.
Was aber dann? Gilben und Röten tun ja auch noch der Safranschirmpilz und auch
der Gift- Riesenschirmling. Der Safran fiel aber schon von vornherein aus, da
bei der Kollektion die wollige Hutoberfläche fehlte. Die Pilze gehörten also
näher untersucht.

Hier ein Blick auf die Lamellen...

... und auch mal die Manschette etwas näher betrachtet.

unmittelbar nach dem Aufschneiden begann der Stiel zu gilben,

während die Stielbasis schon ein deutliches Orange aufwies.

Nach ca. einer halben Stunde nahmen die Stellen bereits rostfarbene Töne an.

Zusammen mit den beobachteten Makroeigenschaften sowie der Wuchsform
und dem Standort sollten derartig auffällige Pilze eigentlich zu bestimmen sein.
Und siehe da - nach Konsultation der Fachliteratur kam ich tatsächlich zu
folgendem Ergebnis:

- Büscheliger Egerlingsschirmling – Leucoagaricus bresadolae (Laux) GIFTIG!
- Gelbfüssiger Egerlingsschirmpilz – Leucoagaricus bresadolae (Bon) GIFTIG!
- Anlaufender Schirmling – Leucoagaricus bresadolae (Dähncke) essbar (???!!!)

und zuletzt das wohl momentan gültige Taxon im Band 4 Großpilze BW :
- Büscheliger Egerlingsschirmling – Leucoagaricus americanus (o.A.)

Na bitte, vier verschiedene Bezeichnungen in der populären Pilzliteratur, im
Dähncke ein Foto, das unpassender nicht sein könnte. Hier als Speisepilz und
dort als Giftpilz deklariert. Ich muss aber noch dazu sagen, dass ich nur den
alten Bon habe.

Vom Foto her hat mir der neue Laux am meisten weitergeholfen. Auch die
beschriebenen Merkmale im Bon haben mich sicher auf genau diesen Pilz geführt.
Die Standort- und Wachstumsbeschreibungen im BW Band 4 passen ebenfalls.

Da ich bisher keine Größenangaben gemacht habe, möchte ich dies hiermit
nachholen. Hutdurchmesser größtes Exemplar: 20 cm – Stiel ebenfalls knapp 20 cm.
Geruch: angenehm pilzig, ähnlich Parasol. Geschmack: mild und angenehm.

Zu Hause habe ich dann noch Ammoniak über das Hutfleisch „gekippt“, was prompt
zu einer dunkelgrünen Farbreaktion führte und furchtbar gestunken hat.
Im Anschluss dunkelte die Verfärbung aus bis fast schwarz.

Nachdem der wissenschaftliche Teil nun abgeschlossen ist, möchte ich zum
Schlusswort kommen und noch eine kleine, aber aus meiner Sicht bedeutende
Frage aufwerfen.

Ich haben diese Pilze nach bestem Wissen und Gewissen untersucht und glaube, sie
auch zu 90% sicher bestimmt zu haben. Natürlich ist mir klar, dass mir dabei
Fehler unterlaufen sein könnten oder dass ich etwas Entscheidendes übersehen
habe und meine Bestimmung somit falsch ist. Darum stelle ich den Beitrag ja hier
in das Forum.

Wenn ich richtig liege, habe ich allerdings einen relativ seltenen Fund gemacht.
Ein Erstfund, egal was es ist, war es für mich sowieso.

Die Frage, die mir unter den Nägeln brennt: Sowohl im Bon als auch im Laux ist
L. bresadolae als giftig gekennzeichnet; nicht bloß als giftverdächtig.
Hätte ich vielleicht besser daran getan, diese Kollektion zu vernichten, um zu
verhindern, dass die insgesamt 10 Pilze von irgendwem als Parasol verspeist
würden?

Ich habe sie jedenfalls stehen lassen, und aufgrund des folgenden Regentages
hatte sie auch bis gestern noch niemand eingesammelt.

Allerdings habe ich auch noch einige mir bekannte Parasoljäger vorgewarnt.
Einem Camper habe ich dann aber noch die beiden Testpilze gezeigt und ihn
gefragt, was er davon halte – Er meinte, ein klarer Fall für die Bratpfanne.
Nachdem ich ihm dann erzählte, dass das gerade keine Parasole sind und es
obendrein giftige Schirmpilze gibt, sah er doch recht erstaunt aus.

Eigentlich liegt hier meiner Meinung nach ein ziemlicher Grenzfall vor –
Naturschutz vs. Schutz von Menschenleben. Wie seht ihr das eigentlich?

Ach so, auf dem Dunghaufen fruktizierten noch weitere Schirmlingsverwandte.
Dazu demnächst mehr hier im pilzepilze Forum.

Grüße

Ingo

Beiträge in diesem Thread

Eine Seltenheit und die Verwechslungsgefahr -- Ingo -- 7. August 2006, 23:46 Uhr
Re: Eine Seltenheit und die Verwechslungsgefahr -- proletus -- 8. August 2006, 04:44 Uhr
Re: Eine Seltenheit und die Verwechslungsgefahr -- AK_CCM -- 8. August 2006, 07:05 Uhr
Pilzdatenbank -- Ingo -- 8. August 2006, 18:01 Uhr
Hallo Ingo , E-Mail ist abgeschickt *oT* -- EricS -- 8. August 2006, 21:37 Uhr
Hallo Ingo,toll hast Du das Bestimmen dokumentiert -- hans hurter -- 8. August 2006, 08:21 Uhr
Re: Eine Seltenheit und die Verwechslungsgefahr -- zuehli -- 8. August 2006, 08:26 Uhr
Konkretisierung "Grenzfall" -- Ingo -- 8. August 2006, 14:18 Uhr
Re: Konkretisierung "Grenzfall" -- Andreas -- 8. August 2006, 15:03 Uhr
Re: Konkretisierung "Grenzfall" -- zuehli -- 9. August 2006, 09:10 Uhr
Re: Konkretisierung "Grenzfall" -- AK_CCM -- 9. August 2006, 10:25 Uhr
Re: Konkretisierung "Grenzfall"Hallo Ingo,das ist -- hans hurter -- 8. August 2006, 16:00 Uhr
Champignon-Mutterkorn-Vergiftung -- AK_CCM -- 8. August 2006, 17:05 Uhr
Hallo Andreas,leider ist der Kollege Sepp -- hans hurter -- 8. August 2006, 17:18 Uhr
klingt unwahrscheinlich -- AK_CCM -- 8. August 2006, 17:55 Uhr
Ich werde mich mal im Pilzverein rumhören!LG Hans *oT* -- hans hurter -- 8. August 2006, 17:59 Uhr
Danke! *oT* -- AK_CCM -- 8. August 2006, 18:09 Uhr
Re: Champignon-Mutterkorn-Vergiftung -- Georg -- 8. August 2006, 21:21 Uhr
Hallo Georg+Andreas,das werde ich baldmöglichst -- hans hurter -- 9. August 2006, 09:41 Uhr
Schöner Fund, tolle Dokumentation! *oT* -- Thüringer-Holz -- 8. August 2006, 19:11 Uhr

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