Die Systematiker sind nämlich in einem Stadium angelangt, in dem nur
: noch molekularbiologische und genetische Untersuchungen weiterhelfen. Ein
: Anfang ist gemacht, es fehlen jetzt nur noch mehr Wissenschaftler, die
: sich da reinknien und natürlich Geld!
Hallo Thomas,
da muss ich dir leider widersprechen. Die Genetik ist sicherlich ein großartiges Hilfsmittel, um erste Vorstellungen der Verwandtschaft von Pilzen zu entwickeln. Aber sie stößt schnell auf ihre Grenzen. Je nachdem, welches Stück der DNA (z.B. ITS-region, LSU, SSU etc.) man sequenziert, erhält man andere Ergebnisse. Bei manchen Familien ist die ITS kaum aussagefähig, in anderen anscheinend wertvoll. Dann hängt das Ergebnis stark von der verwendeten Statistiksoftware ab, also der Auswertungsmethode (ob man most parsimony verwendet, was von einiges inzwischen abgelehnt wird - Stichwort: Die Natur verwendet trial and error, da geht sie nie den schnellsten Weg zum Ziel - oder PAUP, oder was auch immer - oder Monte-Carlo). Das sind nur "technische" Probleme, die man ja später mal klären könnte? Klar, aber es gibt ein anderes großes Problem.
Di Evolution verläuft dem Anschein nach immer wieder expolsionsartig. Lange Zeit gab's wenig, dann auf einmal gibt es eine riesige Radiation. Die Großgruppen haben sich in kürzester zeit getrennt und entwickeln sich seitdem isoliert. Beispiel Insekten: die Ordnungen sind genetisch gut definiert. Glasklar, um es so auszudrücken. Aber die ordnungen haben sich sehr früh und in sehr kurzer Zeit voneinander getrennt. In dr kurzen Zeit konnten sich nur durch Mutationen die Bereiche der DNA, die man für die Stammbaumrekonstruktionen verwendet kaum verändern. Das heißt, genau da, wo es spannend ist, kommt man nicht mehr weiter. An den kritischen Punkten stürzen die DNA-Stammbäume zusammen (im hier zitierten Artikel mit Sternchen markiert). Man muss sich fragen, was denn die Aufspaltung erzeugt hat. Hat sich das Verhalten einer Teilgruppe geändert, dass sie nicht mehr mit der Ausgangspopulation gekreuzt haben (anderes Jagdverhalten, anderes revier gesucht, räumliche Isolation)? Welches anatomische Merkmal war ausschlggebend für den Erfolg der Teilgruppe? Das kann man morphologisch-anatomisch teilweise aufdröseln. Größte Gefahr hierbei sind Parallelentwicklungen. Wenn also eine "Erfindung" mehrfach oder zweimal gemacht wurde. Dann packt man womöglich die Gruppen mit diesem Merkmal zusammen, obwohl sie nicht verwandt sind. Hier hilft die Genetik ungemein! So konnte man zeigen, dass Coprinus comatus, der Schopftintling in Wirklichkeit nahe den Champignonartigen steht! Der rest von Coprinus jedoch bei Psathyrella. Man kann das aber auch sehr schön anatomisch belegen. Tulostoma und Coprinus comatus haben sehr ähnliche Rhizomorphen. Die Rhizomorphen der Agaricaceae in sich (incl. lepiotaceae) sind recht ähnlich. Die Rhizomorphen scheinen teilweise sehr konservative Merkmale darzustellen. Insofern eignen sie sich sehr gut für Einteilungen. Genetisch wird das gestützt - wunderbar! Innerhalb der Röhrlingsartigen (Boletales) habe ich anhand der Rhizomorphen Systematik betrieben. Das geht!
Auch die Zusammengehörigkeit von "Phallales", "Gomphales" und "Geastrales" kann man schön anatomisch belegen.
Sind die "klassischen" Systematiker auf Konvergenzen reingefallen, was durch die Genetik gezeigt wurde, so konnte man hinterher das oft durch genaues Hinsehen auch anatomisch erkennen.
Wo ist der Hauptunterschied zwischen genetischer Phylogenie und "klassischer"? Beide untersuchen Merkmale, egal ob Basenpaare oder Gewebestrukturen. Die genetische Phylogenie errechnet aber reine Ähnlichkeiten (wieviele Paare stimmen überein). Es wird nicht geprüft, welche Paare sich wann geändert haben, wo und wann also die entscheidende Weichenstellung war (wie auch?). Und Konvergenzen auf genetischem Niveau können so nicht erkannt werden. Die klassiche Methode sucht nach ursprünglichen Merkmalen (Plesiomorphien) und trennt neu erworbene (Apomorphien) ab. Anhand letzterer kann man Monophyla definieren, also einheitliche verwandtschaftliche Gruppierungen. Nicht Ähnlichkeit, sondern verwandtschaft ist ausschlaggebend.
Beispiel: Man weiß, dass Fruchtkörperformen immer wieder den äußeren Bedingungen angepasst werden. Innerhlab einer Gattung (ja sogar einer Art und einem Individuum!) kann es sowohl "Hutpilz-Fruchtkörper" wie secotoide oder hypogäische geben. Da kann man wenig mit anfangen. Das Mycel und die Art wie es Nährstoffe transportiert ist da viel konservativer. Auch die Ultrastruktur (wie wird die Sporenwand aufgebaut, oder welche Zucker werden verwendet etc.). Hier kann man Systematik betreiben. Nimmt man nur die äußerliche Ähnlichkeit, kommt man immer zu falschen Ergebnissen, muss es ja sogar.
Die Ideallösung ist ein Hand in Hand-greifen aller Methoden. Anatomie, Ultrastruktur, Chemismus, Genetik. Jede Methode hat eine andere "Auflösung". Genetik ist perfekt für Grobeinteilungen als erste Idee. Mit dem Rest kann man dies erhärten. Ohne Genetik würde man in der klassischen Arbeitsweise zu schnell fehlinterpretieren. Die Genetik alleine beißt sich aber derzeit fast überall die Zähne aus. Irgendwann ist die "Auflösungsgrenze" erreicht. Die Anatomie kann dann genau dort ansetzen, wo es genetisch ausbeißt.
Die Hoffnung, alles genetisch erklären zu können ist schon über 10 Jahre alt. Es klappt nicht, und ich glaube, es wird es auch nicht. Genausowenig die Anatomie es alleine kann.
Als letztes: es wird zu gerne (auch hier) Systematik und Taxonomie verwechselt. In der Taxonomie werden kleinste Sporenmaßunterschiede zur Artentrennung verwendet, für die Systematik ist das meist unbedeutend. Die Systematik sucht nach Schlüsselmerkmalen für Verwandtschaften und erklärt so den Stammbaum. Die Taxonomie benennt die Verwandtschaftlichen Gruppen und sucht nach Bestimmungsmerkmalen. Das sind zwei paar Schuhe. Systematik setzt meist oberhalb des Artbegriffes an. Taxonomen streiten sich um des kaisers Bart, ob man nun wegen 0,5 µm Sporenunterschied zwei Schleierlinge trennen kann oder nicht. Systematiker zeigen, dass Cortinarius und Inocybe nicht näher verwandt sind und dass Galerina ganz aus den Cortinariaceae raus muss und wohl besser bei den Bolbitiaceae s.l. aufgehoben sind.
Ich hoffe, mein Plädoyer für die klassische Systematik ist nachvollziehbar. Kernaussage ist: Es gibt nie die "goldene, alleine seelig machende" Lösung. Jede Methode hat Vor- und Nachteile. Sich in der Wissenschaft künstlich auf eine Methode zu versteifen setzt einem unnötig Grenzen, nagelt einem slebst ein Brett vor den Kopf. Das betrifft auch die klassichen Anatomen, die aus Prinzip von Sequenzstammbäumen nichts halten.
Den Artikel kann man übrigens auch als pdf downloaden. Muss mal die Adresse suchen...
Grüße
Christoph